10.08.2016 - Die Angst des Schützen vorm Elfmeter

Unser ehemaliger 1. Vorsitzender Eckhard Burmester hat einen Text über ein fiktives Elfmeterschießen verfasst und darüber, was im Kopf eines Schützen vorgehen kann. Der Text hat keinen direkten SVE-Bezug, passt aber gut zur wohl schlechtesten Elfmeter/Strafstoß-Saison, die wir bislang in unserer Geschichte abgeliefert haben.

Die Angst des Schützen vorm Elfmeter
Abpfiff.
Auch die Verlängerung hat in diesem grandiosen Endspiel keine Entscheidung gebracht. Es steht immer noch 0:0. Elfmeterschießen!
So ein Mist. Das hätten wir doch gewinnen müssen! Dieses Riesending in der 117. Minute. Rückpass von rechts. Robby kommt 10 Meter vorm Tor frei zum Schuss und haut den Ball an die Oberkante der Latte. Den muss er doch machen! Aber das alte Lied! Fußspitze nach unten und unter den Ball gekommen. Nur ein bisschen die Fußspitze anziehen, Robby, dann ist er drin! Da hab ich noch Ibisevic vor Augen als er noch bei Hoffenheim spielte. Der ist bei so einem Ball runter gegangen, hat sich also schräg nach hinten gelegt, und den Ball dann mit der ganzen Breitseite des Fußes getroffen. Rechts unten ist er eingeschlagen! Dabei war er noch weiter vom Tor weg als Robby. Aber als Abwehrspieler darf man den Stürmern mit so etwas nicht kommen. Und die Trainer sprechen das auch kaum detailliert an. Wenigstens die meisten.
Techniktraining ist heutzutage so was von verpönt. "Sind wir hier in der C-Jugend?" heißt es dann. Oder die Berater beschweren sich sogar weil ihr Klient "bloßgestellt" wurde. Nur, weil einige Übungen nicht auf Anhieb geklappt haben und er dabei etwas "ungelenk" ausgesehen hat. Wenn ich da an die täglichen technischen Übungen der Musiker denke … Jetzt ist Hochspannung angesagt!
Der Schiri hat auf die Sekunde genau abgepfiffen. Wahrscheinlich wollte auch er, dass es zum Elfmeterschießen kommt. So, wie die meisten Zuschauer. Wäre bei mir genau so, wenn ich als Unbeteiligter zuschauen würde. Dann hoffe ich auch, dass in der Verlängerung keine Entscheidung fällt und es zum "Showdown" kommt. Das hat schon seinen Reiz.
Wenn man ehrlich ist, muss man feststellen, dass beide Mannschaften den Sieg verdient hätten, denn die Anderen hatten schon in der regulären Spielzeit auch gute Chancen. Jetzt werden die Karten neu gemischt!
Ich bin wohl nicht unter den ersten fünf. Gott sei Dank. Inzwischen sind wir alle im Bereich der Trainerbank angekommen. Hektisches Treiben, obwohl immer wieder zur Ruhe aufgerufen wird. "Entspannt euch und kommt runter" höre ich von irgendwoher. Die Kameramänner, die zwischen uns herumlaufen können schon nerven. Mein Gehirn arbeitet.
Eigentlich hätten wir das Elfmeterschießen doch mehr üben müssen. "Elfmeterschießen kann man nicht üben!" hat Breitner einmal gesagt. So ein Quatsch! Da fällt mir wieder die Musik als Beispiel ein. Was soll ein Musiker dazu sagen? Der übt schwere komplizierte Passagen tausendmal. Bis er sie im Schlaf beherrscht und praktisch auswendig spielen kann. Da kann ich ein Lied von singen. Als ich in der Jugendzeit noch Klavierunterricht bekommen habe, habe ich genau diese Problematik erlebt. Und wir denken, wenn wir nach dem Training von zehn Elfer acht versenken, dann reicht das …
Der Trainer diskutiert mit dem Co, der einen Zettel in der Hand hält. Sie sprechen einzelne Spieler an. Sind auf "Opfersuche". Eigentlich stehen die Schützen im Groben fest. Das Trainerteam hat aber auch noch aus der Körpersprache der einzelnen Spieler gewisse Rückschlüsse gezogen und möchte sich nun noch letzte Gewissheit verschaffen; will die Verfassung der Kandidaten abklären.
Jetzt noch etwas trinken. Die Muskulatur in den Beinen lockern. Kurz hinlegen und sich strecken. Die Atmosphäre aufsaugen.
Ich werde wohl an 7 oder 8 eingeplant. Komme wahrscheinlich davon. So hoffe ich. "Benny, du musst schießen", schreckt mich der Trainer auf. "Robby hat seinen Fehlschuss mental noch nicht verkraftet und Black ist durch seinen Pferdekuss gehandicapt und traut sich dass nicht zu!" Ja, aber ich sollte doch … "Du schießt auch erst an 5, da brauchst du vielleicht gar nicht mehr ran, wenn alles gut läuft." Ich willige ein. Die Reporter bzw. Kommentatoren erzählen bestimmt etwas von "die alten, erfahrenen Spieler übernehmen Verantwortung." Dabei bin ich doch gerade 26 Jahre alt! Beim Elfmeterschießen habe ich noch nie mitgemacht. Ja, bei einem Pokalspiel war ich vor einiger Zeit schon einmal im erweiterten Kreis. Kam aber nicht zum Einsatz. Und jetzt muss ich auf international höchster Ebene ran. Wird schon klappen. Kann ja wohl nicht so schwer sein, den Ball aus 11 Metern Entfernung dort hinzuschießen, wo er auch hin soll. Es soll losgehen!
Wir bilden den obligatorischen Kreis. Feuern uns an. Der Trainer mahnt noch kurz Ruhebewahren und Konzentration an, dann lösen wir den Kreis nach unserem Schlachtruf auf und trotten zum Mittelkreis. Gedankenversunken. Konzentriert. Mit eisiger Mine. Ich werde wohl die linke Ecke nehmen. Oder? Ja, doch.
Alle Spieler haben sich an der Mittellinie versammelt. Die Show kann beginnen.
Mir wäre es lieber, wenn wir anfangen würden. Aber leider haben die anderen die Wahl gewonnen und entschieden, dass sie mit dem Schießen beginnen. Ob das ein Vorteil oder Nachteil ist, wird sich noch zeigen. Der Druck ist wohl etwas größer wenn man weiß wie der Vorgänger geschossen hat und man muss nachlegen. Aber vielleicht ist das Spiel ja schon entschieden, wenn ich dran bin. So, wie der Trainer mir es in Aussicht gestellt hat. Also muss unser Keeper Franki einen halten. - Und einer geht vorbei! Einen hält der bestimmt. Bei seiner Größe!
1. Schütze.
Daumen drücken. Tor! Franki hatte keine Chance. Er hat sich die falsche Ecke ausgesucht. Jetzt ist Steve dran. Ich habe ein gutes Gefühl. Er schießt oft unsere Strafstöße. Er nimmt immer nur einen kurzen Anlauf. Tor! Scharf in die linke Ecke. Der Torart war zwar noch dran, aber der Schuss war zu platziert und auch scharf geschossen. Die linke Ecke nehm’ ich auch. Vielleicht etwas höher ansetzen. Dann ist er unhaltbar! 1:1
2. Schütze.
Beim Anlauf verkrallt sich die Hand von Charly in meiner Schulter. Wir haben alle unsere Arme auf die Schultern der Nebenleute gelegt. Anlauf. - Tor! Oh! Das war aber abgebrüht. Einfach in die Mitte gelupft. Da hast du als Torwart keine Chance. Es sei denn, du bleibst einfach stehen. Aber wer macht das schon. So. Fredy jetzt bist du gefordert. Tor! Oh. Ist das ein cooler Kerl! Das könnt’ ich nicht. Kurz den Anlauf verzögert. Torwart fliegt in die linke Ecke und dann ruhig in die andere geschoben. Das können nur wenige. Aber wenn der Keeper sehr lange stehen bleibt, kann das schnell schief gehen. Jetzt haben die Reporter aber schon recht, wenn sie von verladen reden. Aber in den meisten Fällen bei denen es so aussieht, hat sich der Torwart einfach nur die andere Ecke ausgesucht. Ist egal. Alles im grünen Bereich! 2:2
3. Schütze.
So, Keeper. Jetzt kannst du mal einen halten. Anlauf. Tatsächlich. Gehalten!!! "Toni, du bist ein Fußballgott" hat Herbert Zimmermann damals gesagt. Unsere Arme lösen sich von den Schultern und wir laufen einige Schritte jubelnd nach vorne. Hab ich doch gewusst! Einen hält er. Super Franki! Ich könnte ihn knuddeln. Aber dafür ist er zu weit weg. Weiter! Jetzt muss Sam die Ruhe bewahren. Ich tippe auf die linke Ecke. Anlauf. Tor !!! Das war aber knapp! Der Torwart war noch dran. Aber wenn man als Rechtsschütze die linke Ecke mit etwas Schnitt anvisiert, dazu noch eine gewisse Schärfe reinbringt, ist es für den Torwart schwer, diesen Schuss abzuwehren. Der Ball dreht von ihm weg und zieht ins Tor; auch wenn man noch mit den Fingerspitzen dran ist. War aber trotzdem knapp. Es bleibt dabei, ich schieße auch links. Ist schon gut. Wir führen! Läuft doch gut. 2:3 Nur noch 2 Schützen.
4. Schütze.
So, jetzt muss der Pfosten her. Oder vorbei. Das wär’s Leider nein! Astrein geschossen! Dazu Franki auch noch in der falschen Ecke. 3:3 Aber wir legen ja noch nach und können wieder in Führung gehen. Auf, Grossi, mach ihn rein! Was macht denn der blöde Torwart? Steht am Punkt und wartet dort auf Grossi. Nur ganz langsam geht er ins Tor zurück. Er will ihn provozieren. Jetzt wedelt er mit den Armen und springt auf der Torlinie hin und her. Hat er vorher auch schon gemacht; aber nicht so extrem! Vor nicht allzu langer Zeit war das noch verboten. Nun ist es aber erlaubt. Grossi, bleib cool! So ein Mist! Gehalten. Aber der war auch wirklich schwach geschossen. Als Rechtsschütze in die rechte Ecke geschoben. Den hätte sogar ich gehalten, wenn ich mir die Ecke ausgeguckt hätte. Hätte, hätte, Fahrradkette. (Warum fällt mir jetzt dieser blöde Spruch ein?) Aber wenn sich der Torwart die andere Ecke ausgesucht hätte, hätten die Reporter wieder gesagt: ausgeguckt und sicher eingeschoben. War aber leider nichts mit ausgucken. Hatte Grossi auch bestimmt anders geplant. Weiter in die Ecke und etwas schärfer. Aber es ist ja noch nichts verloren. Nun ist aber klar, dass ich auf alle Fälle auch noch schießen muss. Es bleibt beim 3:3.
5. Schütze.
Wenn der jetzt vergibt, kann ich das Spiel für uns entscheiden. Wenn er aber trifft, kann ich eigentlich nur verlieren, denn wenn ich dann verwandle, habe ich ja nur ausgeglichen und das Schießen geht weiter. Komm, Franki, den hältst du. Oder einfach vorbei schießen. Pfosten geht auch! Anlauf – Tor! Franki hatte wieder keine Chance. Als Linksschütze mit Vollspann in die linke obere Ecke. Genau, wie es englischen Wissenschaftler berechnet haben. Der perfekte Elfer soll danach mit Vollspann und großer Wucht in die rechte oder linke obere Ecke getreten werden. Waren bestimmt Theoretiker, denn dazu gehört schon ein enormer Mut und natürlich auch die entsprechende Technik. Kann schnell daneben gehen! 4:3! Sie sind in Führung gegangen. Genau diese Situation wollte ich gar nicht haben. Ruhig bleiben, Benni! Ich gehe los. 42 Meter bis zum Punkt.
Also links oben. Genau dahin, wo das Loch auf der ZDF-Torwand ist. Nur platziert schießen und eine gewisse Schärfe, dann passt es! 35 Meter bis zum Punkt.
Aber mit Vollspann einfach in die Mitte, ist auch ’ne sichere Sache. So wie Neeskens es 1974 bei der WM gemacht hat. Nee, nee! Dann geht es mir womöglich so wie Uli Hoeneß bei der EM 1976 im Endspiel gegen die CSSR, als er als 4. Elfmeterschütze den Ball übers Tor in den Belgrader Nachthimmel geschossen hat. Der fliegt jetzt noch als Satellit durch das Weltall … 25 Meter zum Punkt.
Der Torwart ist jetzt dreimal in die linke Ecke gegangen; das letzte Mal in die rechte. Der wechselt jetzt bestimmt wieder und geht in die linke. 100 Pro. Wenn ich den Ball nicht astrein treffe und nicht weit genug in die Ecke komme, kann er den rausholen. Rechts oben ist genau so sicher. Sich einfach das ZDF-Loch rechts oben vorstellen. Geht auch. 15 Meter bis zum Punkt.
Alle Kameras sind auf mich gerichtet. Millionen, wenn nicht sogar Milliarden Zuschauer sehen mich im Fernsehen. So wie meine Freunde in meinem Heimatverein. Eigentlich nicht unbedingt unsere Anhänger. Aber wenn es um internationale Ehren geht, stehen sie voll hinter meiner Mannschaft. Die Reporter faseln jetzt bestimmt etwas von "ist er diesem Druck gewachsen, behält er die Nerven?" Wo ist eigentlich der Ball? 5 Meter bis zum Punkt.
Der blöde Torwart hat ihn noch in der Hand und kommt jetzt auf mich zu. Ich stehe am Punkt.
Der Torwart übergibt mir den Ball und sagt mit einem Grinsen "I go left!" I go left!? Was meint er damit? Idiot! Von sich aus gesehen? Oder von mir aus? Warum hat der Schiri das überhaupt zugelassen? Kann ein Torwart im Elfmeterschießen eigentlich eine gelb/rote Karte erhalten oder sogar eine rote? Er ermahnt ihn nur, durch ein Handzeichen! Bravo … Die Hampelei des Keepers auf der Linie nehme ich gar nicht so stark war. Ich konzentriere mich nur auf meine Ecke.
Nachdem ich den Ball auf den Punkt gelegt habe, schaue ich beim Aufrichten ganz kurz in die linke Ecke. Nur ein flüchtiger Blick. Die meisten Torwarte achten darauf und schließen daraus die geplante Ecke. Funktioniert aber nicht immer. Wirst du gleich sehen. Ich gehe fünf Schritte zurück. Dabei ist mein Blick nur auf den Ball gerichtet. Auf die Ronaldo-Pose verzichte ich. Die steht nur ihm zu. Der Schiri pfeift. Gibt den Ball frei. Ein kurzer Blick auf’s Tor. Also, rechts ob! Anlauf. Schuss. Pfosten!!! Pfosten??? Ich kann es nicht fassen. Der zurückprallende Ball landet genau vor meinen Füßen. Ein Nachschuss wäre auch beim regulären Strafstoß nicht möglich. Ich haue ihn trotzdem rein. Ein ohrenbetäubender Lärm erschallt im weiten Rund. Jubel verschmilzt mit Entsetzen. Die jubelnden Gegner, die ihren Torwart unter sich begraben, nehme ich nur schemenhaft war. Ich hatte recht! Der Torwart lag in der anderen, in der linken Ecke. Hätte ich …

Wer weitere Texte von Eckhard Burmester lesen möchte, findet die auf seinem Blog ebu-blog.de.

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